Wie geht es weiter mit dem delegierten Rechtsakt zu Atom und Gas?

Die Taxonomie wird oft als das Herzstück der EU Sustainable Finance Strategie bezeichnet: Sie ist das Rahmenwerk, das festlegt, welche wirtschaftlichen Aktivitäten als nachhaltig eingestuft werden. Diese Aktivitäten gelten dann als „taxonomiekonform“. Dabei ist wichtig zu betonen, dass wirtschaftliche Aktivitäten, die nicht taxonomiekonform sind, weiter durchgeführt werden können; es kann auch weiterhin in sie investiert werden.

Die Taxonomieverordnung wird aktuell durch delegierte Rechtsakte (DA) ausbuchstabiert und ergänzt. Diese DA sind in der Verordnung angelegt, die ersten (Klimaschutz und Klimaanpassung, Offenlegung) sind seit Januar 2022 in Kraft, weitere werden folgen.

 

Was ist ein delegierter Rechtsakt (DA)?

Delegierte Rechtsakte (DA)  können in Richtlinien oder Verordnungen (Level 1) angelegt sein, um technische Punkte zu ergänzen oder zu ändern. Rat und Parlament ermächtigen die Kommission damit, Vorschläge für delegierte Rechtsakte zu entwerfen. Sie muss sich dabei an den im Level-1-Text gesteckten Rahmen halten. Ziel dabei ist, dass sich Rat und Parlament im politischen Prozess auf die Zielsetzung und politischen Fragen konzentrieren können und sich nicht in technischen Details verlieren. Das Recht, einen DA zu erlassen, kann mit Änderung des Level-1-Textes widerrufen werden.

Ein DA (Level 2) ist ein Verfahren bei dem die Kommission befugt ist, Beschlüsse in Form von Rechtsakten ohne Gesetzescharakter mit allgemeiner Geltung zu erlassen (mehr dazu). Wichtig ist, dass mit einem DA keine wesentlichen Elemente des bestehenden Gesetzes geändert werden können.

Wie wird ein DA verabschiedet?

Die Kommission hat wie bei anderen Gesetzestexten das Vorschlagsrecht. Nach Veröffentlichung durch die Kommission haben Rat und Parlament das Recht, dem DA in einer im Level-1-Text festgelegten Frist (oft zwei oder drei Monate) zu widersprechen. Im Rat benötigt ein Widerspruch eine qualifizierte Mehrheit, im Parlament genügt eine absolute Mehrheit der Mitglieder. Wird kein Widerspruch beschlossen oder die Frist verlängert, gilt der DA als angenommen.

Das Level-2-Gesetzgebungsverfahren unterscheidet sich von Level-1-Vorhaben: Es gibt keine Möglichkeit für Rat und Parlament, Änderungen einzubringen. Es muss außerdem keine Konsultation der Öffentlichkeit / der Stakeholder erfolgen.

 

Aktuell liegt ein weiterer Vorschlag der Kommission für einen delegierten Rechtsakt vor: Die Kommission möchte bestimmte Kern- und Gasenergieaktivitäten über das Level-2-Gesetzgebungsverfahren in die Liste der nachhaltigen Wirtschaftsaktivitäten der Taxonomie aufnehmen.

Als FNG haben wir uns im August 2021 mit einem Offenen Brief gegen die Einbeziehung von Atomenergie in die Taxonomieverordnung positioniert.

 

Die wichtigsten finanzwirtschaftlichen Gründe gegen den delegierten Rechtsakt sind aus unserer Sicht:

  • Gefährdung der Glaubwürdigkeit der EU-Bemühungen zu Sustainable Finance, nicht nur gegenüber internationalen Partnern, sondern auch gegenüber der Finanzbranche:
  • die Taxonomie wäre durch die Klassifizierung von Atomenergie und Erdgas ein politischer Kompromiss und kein wissenschaftsbasierter Referenzrahmen für die Finanzbranche
  • Erhöhtes Risiko von Green-Washing-Vorwürfen:
  • die Taxonomie soll als transparentes Klassifizierungssystem für Nachhaltigkeit einen anerkannten Referenzrahmen schaffen und damit auch zur Vermeidung von Green-Washing beitragen
  • wäre Atomenergie taxonomiekonform, dann würde sich ein Fonds der 5% in Atomenergie investiert auf den ersten Blick nicht von einem Fonds unterscheiden, der 5% in erneuerbare Energien investiert – beide wären 5% taxonomiekonform
  • erschwerte Kommunikation mit Anleger:innen:
  • die Taxonomie und die gesamte EU-Regulierung zu Sustainable Finance stellen schon heute viele Finanzberater:innen vor Herausforderungen, insbesondere bei der Vermittlung von Grundkenntnissen zu Nachhaltigen Geldanlagen an ihre Kund:innen
  • noch komplexer wird es, wenn erklärt werden muss, warum Atomenergie und Erdgas als politischer Kompromiss Einzug in die Taxonomie gehalten haben und diese daher nicht mehr wissenschaftsbasiert ist; wir meinen: wissenschaftliche Erkenntnisse, ob eine wirtschaftliche Aktivität als nachhaltig eingestuft werden sollte, sind nicht verhandelbar
  • Schwächung der Effekte auf die Finanzierungskosten von erneuerbaren Energie
  • die Annahme des delegierten Rechtsakts würde die Förderung von neuen Technologien und den Ausbau Erneuerbarer Energien verlangsamen und damit zur Abhängigkeit von fossilen Energieträgern beitragen

Mit Veröffentlichung des Vorschlags der Kommission läuft jetzt die Frist für Rat und Parlament ab, dem Vorschlag zu widersprechen – andernfalls tritt er in Kraft.

 

Europäisches Parlament: Ausschüsse sprechen sich gegen die Einbeziehung aus

Am 14. Juni haben die Abgeordneten des Europäischen Parlaments in den Ausschüssen für Wirtschaft und Währung (ECON) und für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (ENVI) über den DA abgestimmt – und ihn abgelehnt. Es gab 76 Stimmen gegen den Vorschlag, 62 Stimmen für den Vorschlag und 4 Enthaltungen.

 

Abstimmung im Plenum – und dann?

Nach der Abstimmung in den Ausschüssen folgt die Abstimmung im Plenum des Europäischen Parlaments voraussichtlich am 6. Juli 2022. Dabei gibt es drei mögliche Entwicklungen:

Stimmt die absolute Mehrheit der Abgeordneten (353 Abgeordnete) gegen den Vorschlag, ist er abgelehnt. Atom und Gas würden nicht als taxonomiekonform klassifiziert werden können. Die Kommission könnte dann rechtlich gesehen den Vorschlag überarbeiten und erneut einbringen, politisch gesehen ist dies jedoch unwahrscheinlich.

Gibt es keine absolute Mehrheit gegen den Vorschlag der Kommission, ist er im Parlament angenommen. Theoretisch könnte der Rat noch gegen den Vorschlag stimmen – hier wäre aber eine qualifizierte Mehrheit von 20 Mitgliedsstaaten notwendig, was als unwahrscheinlich gilt. Sprechen sich weder Rat noch Parlament gegen den Vorschlag der Kommission aus, ist er angenommen. Für die Gegner des delegierten Rechtsakts bestünde aber die Möglichkeit, vor dem Europäischen Gerichtshof zu klagen. Ein wichtiges Argument ist hier, dass dieser DA keine technischen Details, sondern eine wichtige politische Weichenstellung behandelt – und damit gegen die Vorgaben verstößt, was ein DA regeln darf.

Eine dritte Möglichkeit wäre, dass das Europäische Parlament eine Fristverlängerung beantragt. Würde dieser Weg gewählt, hätte das Parlament drei weitere Monate Zeit, dem Vorschlag der Kommission zu widersprechen. Verstreicht diese Frist ohne Widerspruch, wäre der delegierte Rechtsakt angenommen. Eine zweite Fristverlängerung ist nicht möglich. Es gilt allerdings als unwahrscheinlich, dass das Parlament eine Firstverlängerung beantragen wird.